Beschreibung
Die vielbeschworene Rückkehr zur Normalität hat noch nicht stattgefunden, selbst mit der Entwicklung des Impfstoffes sind die Gefahren nicht gebannt, auf eine zweite folgt hier und da sogar eine dritte Welle. Die Verteilungskämpfe haben längst begonnen, und sie lassen auf nichts Gutes für eine post-coroniale Zukunft hoffen: Die Gewinner nehmen wieder einmal alles, wie es scheint, den Verlierern bleibt nur Zorn und Resignation, und die Ideologen beharken sich in geleerten Arenen. Besonders getroffen hat es offenbar die Kultur. Nicht nur mussten die Menschen, die sich mit Kunst, Kritik und Wissenschaft jenseits der Systemrelevanz beschäftigen, erkennen, dass sie besonders schäbig behandelt werden (das bisschen Unterstützung, das sie erhielten, stellte sie sofort unter Verdacht des Subventionsbetruges), vielmehr wurde die Krise nicht zuletzt für einen Kulturkampf von oben missbraucht. Das System (wir werden versuchen zu ergründen, was durch das Wort systemrelevant dabei konstruiert wurde) scheint eine unabhängige, kritische und lebendige Kultur ganz einfach nicht gebrauchen zu können. Die Gelegenheit war allzu günstig, sich von einem lästigen Anhängsel zu befreien, das nicht vom Markt, sondern von der Gesellschaft getragen werden will, und das mit widerständigen Formen und Diskursen die Marktförmigkeit der Ästhetik immer mal wieder behindert.
Autorenportrait
Georg Seeßlen, geboren 1948 in München, studierte Semiotik, Malerei und Kunstgeschichte und arbeitet als freier Autor, Feuilletonist und Filmkritiker.