Dieser Band versammelt drei erstmals 1846 publizierte Marionettenspieltexte mit Don Juan und Hans Wurst als Hauptfiguren. Die Texte unterschiedlicher Machart aus Ulm, Straßburg und Augsburg dienten teils wandernden, teils sesshaften Kleintheatern als Basis ihrer beliebten Aufführungen. Ihre Tradition reicht bis ins 18., vielleicht sogar ins 17. Jahrhundert zurück. Der Band enthält auch ein ausführliches Nachwort mit Kommentar und Abbildungen.
Martin Stern, emeritierter Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Basel. Gründer und erster Präsident der Internationalen Hugo-von-Hofmannsthal-Gesellschaft.
Otto G. Schindler (Nestroyana 25/3–4) Martin Stern, der vor allem für seine Frankfurter Hofmannsthal-Ausgabe bekannte, nunmehr emeritierte, aber erfreulich aktive Basler Germanist, hat als vierten Band der Reihe „Quodlibet” einen Neudruck von Don-Giovanni-Texten vorgelegt, die der für seine Editionstätigkeit bekannte Stuttgarter Antiquar J. Scheible aus dem Fundus schwäbisch-alemannischer Puppenspieler zusammengetragen und 1846 in seiner Sammlung Das Kloster veröffentlicht hat. Man könnte Sterns Edition vielleicht als Vorausleistung auf das kommende Mozartjahr ansehen – wie ja auch R. M. Werners wichtige Ausgabe des Laufner Don Juan von 1891 als Beitrag zu den Salzburger Mozarttagen dieses Jahres erschienen ist. Freilich wären für einen solchen Anlass vielleicht ebenfalls österreichische Zeugnisse passender gewesen – wir haben ja aus der Zeit vor Mozart/Da Ponte (neben dem Spiel aus dem erst seit 1816 bayrischen Laufen) vor allem die Wiener Szenar- und Ariendrucke aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, den von Rommel edierten Text Marinellis aus dem Theater in der Leopoldstadt, ein Puppenspiel aus der Umgebung von Wien usw. Dennoch sind wir für den Neudruck der Puppenspiele aus Augsburg, Straßburg und Ulm natürlich ebenfalls dankbar, zumal Mozart zu Augsburg als Herkunftsort seiner Familie ja stets enge Beziehungen unterhielt. Wie aus seinem Nachwort hervorgeht (S. 76), stützt sich der Herausgeber hinsichtlich der Stoffgeschichte des Stückes auf das „grundlegende Werk” von Beatrix Müller-Kampel (Dämon, Schwärmer, Biedermann, 1993), (Für genauere bibliographische Angaben der im folgenden genannten Sekundärliteratur verweise ich aus Raumgründen auf den Online-Katalog des Österreichischen Bibliotheksverbundes [http://www. bibvb.ac.at].) die aber – was leider für die österreichische Germanistik insgesamt gilt – die neuere musik- und theaterwissenschaftliche Literatur nur unzureichend zu kennen scheint und daher gerade für die ältere Stofftradition große Lücken aufweist. So ist ihr z. B. der erste Wiener Don Juan von 1660, der in der Wiener Musikgeschichte schon seit zwanzig Jahren bekannt ist (H. Seifert, Die Oper am Wiener Kaiserhof im 17. Jh., 1985), zur Gänze entgangen, obwohl diese Aufführung aufgrund der Mitwirkung des berühmten Arlequin des Théâtre Italien von Paris, Domenico Biancolelli, der gefeierten Colombina Isabella Franchini sowie der für ihre Übersetzungen spanischer Dramen bekannt gewordenen Angela D’Orso im Hinblick auf die spanisch-italienisch-französische Don-Juan-Tradition größtes Interesse verdient. Auch das von Müller-Kampel „am Bayerischen Hof” angesiedelte Steinerne Todten-Gastmahl von 1748 ist in Wahrheit in Nürnberg von der Truppe des Johann Schulz aufgeführt worden, was für die Wiener Spieltradition insofern von großer Wichtigkeit ist, da Schulz der Gründer der bekannten (auch von den Mozarts geschätzten) „Badner Truppe” gewesen ist, aus der in der Folge Karl Marinelli und sein Leopoldstädter Theater hervorgingen – bekanntlich die erste Vorstadtbühne Wiens, die dann als „Lachtheater Europas” (O. Rommel) zur bedeutendsten Pflegestätte der Wiener Volkskomödie heranwachsen sollte und von der ja auch einer der wichtigsten deutschen Bühnentexte des Stücks überliefert ist. Aber auch viele weitere Don-Juan-Aufführungen des 18. Jahrhunderts wird man bei Müller-Kampel vergeblich suchen: beginnend mit den Prager Aufführungen von 1723 und 1736 durch Ristori und Wallerotti, über die Frankfurter Aufführungen von 1748, 1751, 1764, 1767/68 und 1781/82 von Schuch d. Ä., Kurz-Bernardon oder Böhm, Becks Hamburger Festin von 1735/36, Kochs Leipziger Don Pietro von 1750, die Aufführungen in Nürnberg 1750 und 1760 oder 1761 in Altdorf, bis hin zur Aufführung durch Franz Grimmer 1776 in Ulm oder durch Barbara Fuhrmann am Wiener Kärntnertortheater im Jahr 1783. Dabei überliefern die erhaltenen Theaterzettel nicht nur die bloßen Titel der Stücke, sondern vielfach auch ausführliche Inhaltsangaben, mit deren Hilfe viele bisher noch offene Fragen des intertextuellen Zusammenhangs beantwortbar wären. Mit einem derart lücken- und fehlerhaften „Standardwerk” als Basis ist die Ausgangsposition des Herausgebers nicht gerade die günstigste – wäre er nicht in der Lage, diesen Mangel durch eine Reihe weiterer Spezialarbeiten sowie vor allem durch seine eigenen umfangreichen Kenntnisse auszugleichen. Pariser Aufführungen von Mozart/Da Pontes Don Giovanni und von Molières Dom Juan hatten sein Interesse am Stoff als erste geweckt, ab 1968 schlossen sich eigene Vorlesungen und Seminare in Basel an, die ihn auf der Suche nach weniger bekannten Ausformungen des Stoffes zu den Puppenspielen in Scheibles Sammelband führten. Gemessen an den genannten sowie anderen, auf dem heutigen Welttheater präsenten Werken der „Spitzenkunst” ordnet Stern die Erzeugnisse des populären Theaters, wie sie sich bei den Wanderkomödianten, auf den Vorstadtbühnen und eben auch bei den Puppenspielern finden, ganz ohne romantische Beschönigung der ästhetisch anspruchslosen „Trivialkunst” zu (S. 74). Dennoch verdienten sie das Interesse der Wissenschaft, schon allein deswegen, da sie vielfach den Stoff an die „Hochliteratur” vermittelt haben, besonders aber auch, da deren durchwegs dominierende Dienerfiguren, die mit ihren „Dummheiten und Ausflüchten, Wortverdrehungen und Witzen [.] den sogenannten gesunden Menschenverstand und die gängige Moral” vertraten, lieber „den Leibesgenüssen als der Ehre” frönten, für „Konformismus und Nullrisiko” plädierten und damit als „Identifikationsfiguren” ein Publikum bestätigten, „das unter absolutistischen und restaurativ-biedermeierlichen Verhältnissen seinerseits nicht auffallen, nicht provozieren, nur seine bürgerliche Ruhe” und – so möchten wir ergänzen – (im ambivalent-wienerischen Sinne) seine „Hetz’” haben wollte (S. 78). Dass im Zuge dieser Trivialisierung Don Juan seiner erotischen Komponenten – wie sie erst bei Mozart/Da Ponte wieder stärker herausgestellt werden – nahezu gänzlich entkleidet wird, auch seine dämonisch-atheistischen Züge weitgehend verliert und er hauptsächlich als Serienkiller erscheint, wird von Stern sicher zu Recht auf die verschärften Zensurbestimmungen zurückgeführt, die seit den 1770er Jahren im Zuge der bürgerlich-aufklärerischen Theaterreform auch auf Bühnentexte aller Art angewandt wurden und besonders den Bereich der Sexualmoral sowie Glaubensfragen betrafen. Freilich hätte man zur Veranschaulichung dieses Sachverhalts nicht auf das Traktat eines Zerbster Pädagogen von 1805 zurückgreifen müssen (S. 80), wo ein protestantischer Fundamentalismus seit jeher seine traditionelle Theaterfeindlichkeit auf die „Sinnlichkeit” des Theaters zurückgeführt hat. Auch aus den katholischen Donau- und Alpenländern gäbe es Beispiele genug, wie schon in theresianischer Zeit aufklärerische Staatsräson und innerkirchlicher Reformismus ihre Feiertagsreformen, Prozessions- und Wallfahrtsverbote usw. auch mit Restriktionen im Bereich des volkstümlichen Theaters verbanden und sogar ihre berüchtigten Passionspielverbote mit Verstößen gegen die Sexualmoral (!) zu begründen versuchten (vgl. dazu meinen Aufsatz „Die ,Auferbaulichkeit gemeinen Pövels’ und der ,Geist der Industrie’”, 1995). Auch die Puppen- und Marionettenspieler waren wiederholt von Verboten betroffen, mussten ihre Spiele niederschreiben und zur Zensur einreichen. Einige der bis dahin wohl hauptsächlich mündlich tradierten Texte kamen so in den Besitz von literarisch oder kulturgeschichtlich interessierten Sammlern wie J. Scheible, aus dessen Edition Martin Stern die Puppenspiele aus Augsburg, Straßburg und Ulm wieder abdruckt (über die berühmte Theaterbibliothek des Schriftstellers I. F. Castelli, der in Wien eine Sammlung von Szenaren des Stegreiftheaters angelegt hat, vgl. meine Stegreifburlesken der Wanderbühne, 1990). Im Gegensatz zu älteren, teilweise kontaminierten Ausgaben, die auf einem überholten, normativen Verständnis des Figurentheaters basierten, wollte der Herausgeber damit die ganze Bandbreite dieses Genres, „das von groben bis zu elaborierten und sprachlich verfeinerten Darbietungen reichte”, zur Darstellung bringen. Er hat deshalb, obgleich es sich um ein „krudes und primitives Beispiel” handelt (S. 84), auch das Ulmer Puppenspiel abgedruckt. Es stammt von einem Puppenspielunternehmen, das dort schon seit 1772 bestand, also bereits zu einer Zeit, als der oben erwähnte Franz Grimmer in Ulm seinen Festin de Pierre zur Aufführung brachte. Während bei diesem Donna Amarillis, Don Philippo, Wirt und Wirtin sowie zwei Schäferinnen das gewohnte Personal repräsentieren (wogegen „Don Jeans” Bedienter diesmal „Bernardon” heißt), wird im Puppenspiel Don Juans Vater von der Mutter vorerst mit einer „Aria” über den ungeratenen Sohn hinweggetröstet, bevor ihn dieser in der anschließenden Szene ersticht. Dessen Diener, traditionell wieder Hans Wurst, verlangt wegen seiner „feuchten Natur” von seinem Herren „acht Paar” Hosen. Auch erscheint noch eine Schwester Juans, die dann, da sie den Bruder beim König von Frankreich verklagen will, gleichfalls umgebracht wird. Bis auf den Einsiedler, den Hanswurst zum „Bonfiedler” verballhornt und der seine Weigerung, sein Kleid herzugeben, ebenfalls mit dem Leben bezahlt, haben die beiden Stücke somit wenig gemeinsam – die Textbeziehungen im Übergang von der oralen Tradition zur Verschriftlichung sind gewöhnlich viel komplizierter, als es sich dem Forscher auf den ersten Blick darzustellen scheint. Das Augsburger Spiel, das ebenfalls von einem dort ansässigen Marionettenspieler stammt, ist länger und elaborierter. Vater, Mutter und Schwester sind hier nicht vorhanden; wie üblich setzt das Stück damit ein, dass Don Juan wegen „übler Aufführung” des Landes verwiesen wird und die leidenschaftlich geliebte Donna Marillis an Don Philippo verliert. Hanswurst als Diener erhält so Gelegenheit, das Liebesleid seines Herrn sarkastisch zu kommentieren, indem er auf die „Wohlfeilheit der Weibsbilder” und deren „durchlöcherte Unterwäsche” verweist. Auch die Szene mit dem abgefangenen Brief entspricht der traditionellen Überlieferung; aus dem Wortwechsel zwischen Don Juan und Hanswurst, den die Ermordung des Einsiedlers auslöst, hat Stern den Titelsatz seiner Edition entnommen, dessen Prägnanz ihn an Nestroy erinnerte (S. 87). Ansonsten ist das Stück sichtlich um Handlungslogik bemüht: Don Juans Eskapaden haben in der mannstollen Wirtin ihr Gegengewicht, die Einladung der Statue erfolgt, um Hanswursts „Herzhaftigkeit” auf die Probe zu stellen, usf. Die überlange Salat-Geschichte könnte in Don Giovannis Schlemmer-Szene ihr Vorbild haben, wo sie aber, anstatt Hanswursts überhitzten Magen abzukühlen, auf die „universelle Sinnlichkeit” des Titelhelden verweist (ebd.). Der Straßburger Don Juan ist der dritte Text der Neuausgabe. Auch er entstammt der lokalen Puppenspieltradition, der bekanntlich auch Goethe und Lenz ihre Anregungen verdanken. Ein Jahr, bevor Scheible den Text in die Hand bekam, war er vom Straßburger Tischler und Puppenspieler Heinrich Daniel Krah aufgeführt worden. Das Straßburger Spiel ist „mit Abstand das reichste und elaborierteste” (S. 91); es scheint am wenigsten zerspielt; seine Handlung wird vielfach sorgfältig motiviert und zwischen Hanswurstiade und christlichem Lehrstück ausbalanciert. Hanswurst ist kritischer und vielfach überlegener Kommentator seines Herren und erhält deshalb (wie bei Molière und Mozart/Da Ponte) auch das Schlusswort des Stückes. Er beweist Kreativität im Erfinden von Ränken und Ausreden, seine Lazzi (etwa mit Laterne und Leiter, die Erzählung vom Schiffbruch, beim Plündern der Leiche Don Philippos) kommen an die seiner Kollegen von der Commedia dell’arte beinahe heran – deshalb erreicht auch seine Rede in der Eremitenszene nicht jenen Gipfel an „Albernheit”, wie sie Castelli in Marinellis Dom Juan am Kasperl Laroche konstatiert, den er gleichwohl als die „personifizierte populäre Komik” bezeichnet (I. F. Castelli, Memoiren meines Lebens, hg. von J. Bindtner, 1914, Bd. I, S. 259 ff.). Dass sich die deutschen Don-Juan-Texte in der Hanswurstiaden-Tradition zuletzt im Puppenspiel wiederfinden, geht konform mit jener Entwicklung, die auch andere Elemente des populären Theaters im Zuge seiner Trivialisierung genommen haben: auch Pulcinella, Hanswurst oder Kasperl, einst die populärsten Protagonisten des „regulären” Personen- (und Erwachsenen-) Theaters, sind ab dem 19. Jahrhundert in der Hauptsache nur mehr im Puppen- (bzw. Kinder-) Theater zu finden.