Beschreibung
Inhalt Wolfgang Buchholz: Die Mathematisierung der Ökonomie - die Fragwürdigkeit einer Debatte Winfried Vogt: Über die Rationalität der ökonomischen Theorie Franz Haslinger: Wirtschaftswissenschaften zwischen Rhetorik und Falsifikationismus: Ein Fallbeispiel Jack Birner: Testing Economic Theories Empirically: The Contribution of Econometrics Jörg Breitung, Franz Haslinger und Maik Heinemann: Ist die empirische Makroökonomik eine wissenschaftliche Ilusion? Joachim Möller: Kommentar zu Breitung/Haslinger/Heinemann: Ist die empirische Makroökonomik eine wissenschaftliche Illusion? Piet K. Keizer: Union Economics, A Methodological Critique Hans Werner Holub: Einige kritische Überlegungen zum zeitgenössischen Wissenschaftsbetrieb Knut Gerlach: Anreizstruktur und Forschungsaktivitäten in wirtschaftswissenschaftlichen Fachbereichen Gabriele Köhler: Wirtschaftswissenschaften und Wirtschaftswissenschaftler in der Entwicklungspolitik Editorial Mit dem zehnten Band begeht das Jahrbuch "Ökonomie und Gesellschaft" ein kleines Jubiläum. Grund genug, diesen Band der Reflektion über das, "was Ökonomen tun, wenn sie Wissenschaft treiben", zu widmen. Schon mit dieser harmlosen Formulierung ergeben sich Schwierigkeiten. Was heißt es "Wissenschaft treiben"? Welches sind die Besonderheiten, die "Wissenschaft" und "Nichtwissenschaft" voneinander unterscheiden? Ein Blick in die philosophisch-wissenschaftstheoretische Literatur macht deutlich, daß es keine klaren und universell anwendbaren Abgrenzungskriterien gibt. Längst hat man erkannt, daß diese Doktrinen des Empirismus oder des kritischen Rationalismus etc. praktisch nicht befolgt werden und erhebliche logische Mängel aufweisen. Zwar berufen sich Ökonomen noch häufig auf den kritischen Rationalismus, in ihrem praktischen Tun befolgen sie jedoch diese methodologischen Regeln nicht oder bestenfalls nur sehr bedingt. In diesem Sinne wird denn auch die übertriebene "Mathematisierung in der ökonomischen Theorie" kritisiert. Die Kritiker - und es sind keineswegs nur solche, deren Mathematikkenntnisse gering sind - weisen nachdrücklich darauf hin, daß die Strenge des mathematischen Arguments lediglich den Anschein von Wissenschaftlichkeit vermittle. Worauf es in den Wissenschaften ankomme, sei das Aufstellen gehaltvoller Hypothesen und deren kritische Prüfung. Tatsächlich jedoch würden mathematische Modelle ohne Realitätsbezug und empirischen Gehalt entwickelt. Die meisten Ökonomen diskutierten Wirkungszusammenhänge in irrealen und künstlichen Welten. Folglich seien weite Bereiche der ökonomischen Theorie nutzlos und unwissenschaftlich, weil sie unser Wissen über die Realität nicht vermehrten. Mit der Fragwürdigkeit dieser Kritik an der Mathematisierung der Okonomie setzt sich Buchholz auseinander. Zu den Grundvoraussetzungen der herrschenden ökonomischen Methode gehören die "Situationslogik" und der Individualismus. Nach der Situationslogik sind die typischen Handlungen von (rationalen) Individuen durch die Handlungsumstände (Nebenbedingungen) und die Abwägung der Vor- und Nachteile der Konsequenzen bestimmt: Das Individuum wählt die voraussichtlich beste Entscheidung. Der Individualismus fordert, grob gesagt, daß gesamtgesellschaftliche Phänomene aus individuellem Rationalverhalten erklärt werden müssen. Situationslogik und Individualismus als methodologische Postulate sind umstritten. Unter anderem, weil das Rationalitätspostulat der Situationslogik nicht falsifizierbar ist und praktisch jedes Verhalten erklärbar wird, sofern die "richtigen" Variablen in die Nutzenfunktion aufgenommen werden. Der vielzitierte Imperialismus der ökonomischen Theorie" ist die Folge und so werden Familiengründung, Kinderzeugung, die Entscheidung zum Singledasein, Mafiamitgliedschaft und -nichtmitgliedschaft, rationales Suchtverhalten etc. situationslogisch bzw. "ökonomisch" erklärt. Gegen diesen Ansatz wird vorgebracht, daß gerade Interaktionen von Individuen - deren Ergebnisse Institutionen, soziale Zustände, Normen etc. seien - durch die ökonomische Theorie höchst unzureichend modellmäßig erfaßt würden. Vogt geht in seinem Beitrag auf diese Kritik ein und unterstreicht, trotz einiger Zweifel, die grundsätzliche Nützlichkeit dieser Methoden. Allerdings erweist sich der Begriff "Rationalverhalten" lediglich für Entscheidungen unter Sicherheit als unproblematisch. In zahlreichen Experimenten wurde gezeigt, daß die Erwartungsnutzentheorie, das Standardkriterium für Rationalverhalten bei Risiko, tatsächlich systematisch verletzt wird. Anhand dieses Fallbeispieles untersucht Haslinger, ob in dieser Situation überwiegend "sachlich-inhaltliche" Argumente oder eher "rhetorische Überzeugungsarbeit" die Diskussion bestimmen. Während im Bereich der Entscheidungstheorie kontrollierte Experimente möglich sind, erweisen sich im Bereich der Makroökonomik "crucial tests" als schwierig, wenn nicht sogar prinzipiell undurchführbar. Birner untersucht in seinem Beitrag, inwieweit ökonometrische Tests in den Debatten zwischen Hayek und Keynes von Bedeutung waren. Die Rolle der Ökonometrie im allgemeinen, und die Nützlichkeit von hochtechnischen, "sophistizierten" Verfahren im besonderen, werden in letzter Zeit heftig debattiert. Diese Debatten haben zu einer regelrechten Schulenbilung in der Ökonometrie geführt. Der Artikel von Breitung, Haslinger und Heinemann gibt einen Überblick über das Spannungsverhältnis zwischen Kritischem Rationalismus und ökonometrischer Methodik, über die wichtigsten Ansätze und eine Einschätzung ihrer Reichweite. Wenn es aber zweifelhaft ist, ob Tests überhaupt eine Entscheidung zwischen konkurrierenden makroökonomischen Theorien herbeiführen können, dann fragt sich, welche Möglichkeiten sonst noch existieren, um die "bessere" Theorie identifizieren zu können. Am Bespiel der Gewerkschaftstheorien argumentiert Keizer, daß der ökonomische Ansatz zu eng ist. Wie in vielen anderen Bereichen gibt es auch zur Wirkung von Gewerkschaften "nichtökonomische" theoretische und empirische Analysen, wie z.B. in der Soziologie, der Sozialpsychologie etc. Die Ökonomen müssen nach Keizer den Diskurs mit Wissenschaftlern anderer Disziplinen suchen, um die Qualität ihrer Theorien verbessern und zwischen konkurrierenden Ansätzen erfolgreich diskriminieren zu können. Während die bislang vorgestellten Artikel eher methodologischer Natur sind, sind die folgenden drei Beiträge mehr der Wissenschaftssoziologie zuzurechnen. Holubs Beitrag liefert dazu den Brückenschlag. Anhand einer Analyse von Veröffentlichungen und Zitationen von Beiträgen zur Wachstumstheorie weist er nach, daß die überwiegende Zahl der Artikel lediglich Karrierezwecken nützt. Mathematisierung und Enge der Fragestellung erscheinen in einem System hohen Publikationsdrucks funktional bei der Verfolgung dieser Zwecke. Während Holub vor einer direkten Übernahme des amerikanischen Wissenschaftssystems ohne jede Modifikation warnt, fragt Gerlach, ob nicht angesichts der Tatsache, daß viele Wirtschaftswissenschaftler aufgrund fehlender pekuniärer Anreize in der universitären Grundlagenforschung sich von dieser abwenden und sich statt dessen in z.T. unwissenschaftlichen, gutdotierten, außeruniversitären Aktivitäten engagieren, verstärkte finanzielle Anreize nach amerikanischem Muster diesem Trend entgegenwirken könnten. Last but not least setzt sich Gabriele Köhler in ihrem Schlußbeitrag mit dem Wechselspiel zwischen der Rolle der Wirtschaftswissenschaftler, den Moden in den Wirtschaftswissenschaften und der entwicklungspolitischen Beratung auseinander. Sie weist nach, daß neue theoretische Erkenntnisse für entwickelte Staaten nur zu oft ungefiltert und unkritisch auf Entwicklungsländer übertragen werden.