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Briefe aus der Roten Wüste | Lettere dal deserto rosso

Gedichte | Poesie

Leuschner, Pia-Elisabeth / Del Zoppo, Paola / Wagener, Michael / Wagener, Michael / Wagener, Michael
Erschienen am 20.04.2024
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783948107802
Sprache: Deutsch
Umfang: 72
Format (T/L/B): 18.0 x 13.0 cm

Beschreibung

»ALS WIR DURCH DIE ROTE WÜSTE GINGEN, STANDEN BEAMTE / AM WEGESRAND. KEINE PROPHETEN IM EIGENTLICHEN SINN. / SIE SAGTEN: HALTET ABSTAND VONEINANDER. BLEIBT EINANDER / FERN. GEHT NICHT EURER WEGE, GRABT EIN LOCH, VERKRIECHT / EUCH DARIN. WIR GLAUBTEN IHNEN: DIE VERNUNFT IST EINE BLUME / IN DEN SÜ?MPFEN. DER HIMMEL AUS STAUB. DIE SONNE, EINE / WELTBANK. DAS FIRMAMENT, EIN SCHROTTPLATZ FÜR DIE STERNE. / IN DER ROTEN WÜSTE GIBT ES HALTESTELLEN UND SCHNELL- / ZÜGE FAHREN ZU EINEM PUNKT OHNE WIEDERKEHR. DER TOD / IST PRAKTISCH. WENN EINER STIRBT, KOMMT ER IN DIE SCHLAG- / ZEILEN. DIE HOHLEN MÄNNER BEFEHLEN DEM LEBEN AUFZUHÖREN. / ALLE FARBEN SIND GLEICH. SCHWARZ IST DER GLAUBEN. / SCHWÄRZER JEDE HOFFNUNG. WENN JEMAND VON LIEBE SPRICHT / STECKT MAN IHN IN EIN LEERES ZIMMER. WIR SIND ES, WIR SIND / DIE LIEBENDEN IN DEN EMPFINDLICHEN WÜSTEN.« »Das Briefgedicht gehört zu den ältesten Formen der Literatur. Mit ihrem Band Briefe aus der Roten Wüste / Lettere dal deserto rosso verschreiben sich auch Mario Borio und Tom Schulz dieser Form, konzentriert in jeweils 15 Zeilen langen Briefen und Gedichten entsteht hier ein poetischer Dialog, der versucht, Raum und Zeit zu verbinden und gleichzeitig zu überwinden. Er ist ein lyrisches Gespräch von Mitteilungen, Fragen und Antworten, das nach der und dem anderen sucht, in einer Zeit, in der sonst selbstverständliche Parameter verloren zu gehen scheinen und die von Krisen bestimmt wird. In ihrem Exposé zum Buch stellen Maria Borio und Tom Schulz daher die Frage: »Wie kann man heutzutage noch Briefgedichte schreiben?«, wobei Leserin und Leser auf den eigentlichen Anfang dieser Zwiesprache bis fast zum Ende des Bands warten müssen, ihrer ersten Begegnung auf einem Poesiefestival in Rosario in Argentinien: »ALS WIR UNS ZUM ERSTEN MAL BEGEGNETEN, TRENNTE UNS NUR / DER BÜFFETWAGEN IN EINEM FRÜHSTÜCKSRAUM EINES HOTELS IN / ROSARIO/ARGENTINA. ICH SPRECHE KEIN SPANISCH – SAGTEST DU. / DER KAFFEE IST SCHLECHT, SAGTE ICH, MAN KANN IHN NUR MIT SEHR / VIEL ZUCKER TRINKEN. DU NAHMST EINEN TEE, EIN HART GEKOCHTES / EI, EINE FRUCHT, WELCHE? ALS WIR UNS ZUM ERSTEN MAL BEGEGNETEN / TRENNTE UNS HÖCHSTENS EIN HALBER BUCHMETER, EINE VERSCHOLLENE / ZEILE VON BORGES. MELONEN LAGEN AUFGESCHNITTEN VOR UNS, EINE / WEIßBROTSCHEIBE SCHNIPPTE AUS DEM TOASTER. DIE ZEILE VON / DER UNBEKANNTEN GELIEBTEN, WÜRDE SIE UNS ÜBER DAS MEER / FÜHREN, ZURÜCK ODER VORAUS, IN DIE ARME DES ANDEREN? […].« Im Rahmen des Kennen- und Liebenlernens müssen vielfältige Grenzen überwunden werden, sowohl geografischer wie auch sprachlicher Natur. Die Orte und die Zeiten der Begegnungen tauchen in den Texten immer wieder auf: Rosario, Buenos Aires, Rom, Umbrien, Acquaviva und Berlin einerseits, die Zeiten des nicht ›Beieinander-Sein-Könnens‹ andererseits, und die überbrückt werden müssen: »Die Reste auf dem Fluss sind Münder, Zungen, Lippen, / wir schreiben sie mit Kopf und Mund, / auf der Zunge, am feuchten Lippenrand – / alles Zeit einer verflüssigten Welt: / die Stacheln der Kastanien-Igel lösen sich auf, / der Herbst kehrt den Frühling nicht mehr um, / Wärme und Kälte lagern sich über dem Tiber / wie bewegliche, gefährliche Lettern, Samen ohne Schoß, / Klima ohne Schale – entspinnen neue Spannungen. / In unseren Stimmen werden die Stacheln Kristalle, / […] / Wo Welt im Mund ist, fallen sie alle gemeinsam.« In den Versen entfaltet sich hier die Liebe im Austausch von feinfühlig ausgesuchten Alltäglichkeiten und Erinnerungen – für die andere und den anderen –, jedoch ihre größte und tiefste Zärtlichkeit erfährt sie in der eingehenden Betrachtung der Natur, in den Bildern und Metaphern zu Pflanzen, Tieren und auch Mensch: »Wir haben uns ausgezogen – wie kleine Zwiebeln, / die man in die Erde steckt. Wenn wir uns beschützen, / verlängern sich die Wurzeln, verwandeln sich. / Wir sind die Gärtner, die hegen und pflegen. Im Bauch / keimen die anderen, unsere Liebe gießt sie, / lässt hoffen ohne Scham? Glück gibt es nicht, / aber etwas, das ihr begreifen könntet, wenn Menschen / einen Raum miteinander teilen – ›wir‹ ist ›alle‹, mitunter, / ein Traum – heute hinab in die Erde, morgen aufkeimen? / Der Garten ist Leere und Welt: Kappt die Zweige […]«. Mit jedem Text wird dieser Garten größer und dichter, in seiner Blüte und in den gemeinsamen Annäherungen und Erinnerungen, dabei die sprachlichen Grenzen in Klang, Metaphorik und Poetik zunehmend überwindend, um diese schließlich neu auszuloten. Mit dem Titel des Buchs Briefe aus der Roten Wüste beziehen sich Maria Borio und Tom Schulz explizit auf den 1964 von Michelangelo Antonioni inszenierten Film Die rote Wüste, überwiegend gedreht in und an den Industrieanlagen im italienischen Ravenna der 1960er-Jahre und übrigens sein erster Farbfilm. Michelangelo Antonioni nutzt diese ›moderne und von Technik bestimmte‹ Kulisse, um das Bild einer radikalen Sinnkrise und dem Verlust jeglicher Bindungen zu zeichnen, wobei deren Oberfläche die tragende Rolle spielt, eine neu zu erlernende Poesie und Sinnhaftigkeit darstellt und widerspiegelt, die letztendlich in einer neuen Liebe endet. Von heute aus betrachtet weckt die fast schon apokalyptisch anmutende und von Entfremdung geprägte Szenerie durchaus Erinnerungen an die Pandemie, die längst vergessene Grenzen wieder hat entstehen lassen und in vielerlei Hinsicht eine Zeit der Verluste war: »DA WAR EIN BILD, DAS SICH SPIEGELTE ZWISCHEN DEN GESICHTERN, / UNSERE KÖPFE GLEICHEN DEN ZWEI HIRSCHKÖPFEN. / IM MOSAIK VON S. APOLLINARE STRECKEN HIRSCH UND KUH / DEN HALS ABWÄRTS ZUR QUELLE UND DER WALD BEUGT SICH: / GESICHTER, AUGEN WERDEN SUBSTANZ DES WALDES – / ODER SIND EIN MEER, DER BRUNNEN IST DIE DREI-MEILEN-ZONE, / WO WIR UNSERE BILDER UNTERGEHEN SEHEN / UND FLÜCHTLINGE, WIE CORNELIUS SCHREIBT IN DE DOMINIO MARIS, / DER TAUMEL UND DIE STRENGE DER GRENZE ZWISCHEN LÄNDERN UND MENSCHEN, / MENSCHEN UND TIEREN – SICH IN DER QUELLE SPIEGELN UND / FRAU UND MANN SEIN ODER ›ER‹ UND ›SIE‹ EINER SPEZIES, / EIN GEN, EINE MIGRATIONSGESCHICHTE. DEIN GESICHT UND MEINES: / DIE DREI-MEILEN-GRENZE. […].« Das Gros der Gedichte von Maria Borio und Tom Schulz in Briefe aus der Roten Wüste / Lettere dal deserto rosso ist während der Pandemie entstanden, eine Zeit, für die die Maske Sinnbild ist. Ich sehe in ihnen Briefe aus Atem.« [Michael Wagener] Das Buch erscheint als Band 28 in der Reihe staben, wunderbar übersetzt und übertragen aus dem Italienischen und Deutschen von Pia-Elisabeth Leuschner und Paola Del Zoppo, bebildert mit Montagen in Anlehnung an Michelangelo Antonioni und seinen Film Die rote Wüste, sowie ausgestattet mit Sekundärtext und Plakatumschlag.

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