Beschreibung
In der etablierten Rilke-Forschung ist das Phänomen Polemik bislang unberücksichtigt geblieben, zumindest als ernstzunehmender interpretativer Ansatz. Sprachliche Manifestationen dieser Form der Widerrede sind offensichtlich unvereinbar mit der über Jahrzehnte hin kultivierten Vorstellung vom sensiblen Impressionisten, esoterischen Symbolisten und weltabgewandten Ästheten Rilke. Die vorliegende Untersuchung basiert auf einer Fragestellung, die die pragmatische Dimension polemischer Rede in Beziehung setzt zur persuasiven Wirkungsabsicht des Autors. Dabei wird deutlich, daß Rilke die Polemik einsetzt, um die Künstlerexistenz zu legitimieren. Der Autor problematisiert die Stellung des Künstlers in der bürgerlichen Gesellschaft des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Bei ihm verbindet sich die allgemeine sozialhistorische Problemkonstellation des modernen Künstlers, der für sich und seine Kunst Unabhängigkeit von der Zweckrationalität ökonomischer Prozesse reklamiert, mit einem privaten Rechtfertigungssyndrom, das die Durchsetzung der sozialen und ökonomischen Anerkennung einer Sonderexistenz als Künstler zum Ziel hat. Unter diesem Gesichtspunkt erfährt auch die Idee des "l'art pour l'art" eine radikale Umdeutung: die Autonomie der Kunst tritt hinter die Autonomie des Künstlers zurück.