Du darfst nicht daran zerbrechen
Eine Reise in die Vergangenheit bringt Helma Kienast ihren Jugendträumen wieder ein Stück näher. Plötzlich sieht sie wieder alles vor sich. Sie wird zweimal auf die Straße gesetzt: Das erste Mal als Studentin der marxistischen Philosophie an der Friedrich- Schiller-Universität, das zweite Mal Jahrzehnte später als Diplombibliothekarin (Fh) an einer technischen Fachschule. Jetzt kehrt sie an die Stätten ihres Wirkens zurück. Von Schloß Friedenstein führt sie die Fahrt in das Saale-Holzland - über Kahla und die Leuchtenburg nach Jena.
Herrliche Landschaften und wunderbare Menschen begegnen ihr, aber sie erfährt auch Bitternis, Enttäuschung und Zorn. Durch die Kraft einer romantischen Liebe jenseits von Raum und Zeit findet sie zu sich selbst.
Eines Tages wird sich ins Gegenteil verkehren, was dir jetzt gut und richtig erscheint, hat Karl ihr zum Abschied gesagt. Du darfst nicht daran zerbrechen. Geh hin, umarme einen Baum, oder leg dich auf die Erde, und weine dich aus. Aber du darfst nicht daran zerbrechen. Bedenke immer: Auch dieses ist nicht die letzte Wahrheit. Die Wahrheit liegt im Verborgenen, und wir sind alle Suchende.
Nicht abwägen, aber bis zum Umfallen schreiben - Charlotte Bechstein legte Band "Du darfst nicht daran zerbrechen" vor
Nach dem Buch "Mit den Wölfen sollst du heulen" und Gedichten in der Anthologie "Hab gelernt durch Wände zu gehen" legt die Gothaerin Charlotte Bechstein nun eine neue Veröffentlichung vor. "Du darfst nicht daran zerbrechen" ist der Titel des kleinen Bandes. Er entführt uns auf eine Reise in die Vergangenheit. Dazu nimmt die Autorin den Leser an die Hand und sucht mit ihm markante Punkte ihres Lebens rund um die Leuchtenburg auf. Es erstehen wundervolle Landschaften, wunderbare Menschen, nicht ausgespart sind Bitternis, Zorn, Enttäuschung. Zurückhaltend, manchmal fast sachlich, erzählt Charlotte Bechstein eine anrührende Liebesgeschichte, die Jahrzehnte zurückliegt und sich eben dort ereignete.
Vor allem aber bewegen sich die Gedanken der Autorin um die Geschehnisse dieser Tage. Es sind Erfahrungen einer Ostdeutschen, der man mit blauem Brief und "einem Federstrich die Würde" nahm, die sich mit Absagen herumschlägt. Da geht es um "Unverschämte", die "von der SED nicht genommen wurden" und heute Kapital daraus schlagen. Sie denkt nach über Rechthaberei und Rechtsempfinden, über Enteignungen und Übergriffe. Ihre Erfahrung: Nichts ist so ewig wie der Kalkstein der Burg. Wir sind alle Suchende.
Dabei prüft sie ihre Lebensphilosophie. Wie besiegt "der Menschen die natürlichen Schranken seines Daseins", erreicht "ein Gefühl von Freiheit"? Ist es das, wofür es sich lohnt zu leben? Ihre Antwort: Sie will schreiben, sie muss schreiben. Sie macht sich Goethes Ansicht zu eigen, dass Freiheit nichts als die Möglichkeit sei, unter allen Bedingungen das Vernünftigste zu tun. Sie will nicht mehr kleinlich abwägen, ob es Sinn macht. Vielmehr nimmt sie sich den Rat eines Freundes zu Herzen: Schreib, bis du umfällst ...
So entstand ein lautes leises Buch, wie es der Angelika Lenz Verlag bescheinigte. Vorangesetzt hat ihm die Schreiberin diese Worte: Wer die leisen Stimmen nicht hört, wird ertauben, wer die stillen Bilder nicht sieht, wird erblinden. Wer nicht lesen und schreiben übt, wird im INTERNET ertrinken.
Die gut hundert Seiten des Bändchens bergen Fotos aus den Alben der Autorin. Und sie sind mit Grafiken von Dietrich H. Kniffka ausgestattet, der auch das geschmackvolle Layout besorgte.
M. ZOLLVER
(Bad Langensalzaer Allgemeine, 13.01.98)
Du darfst nicht daran zerbrechen – Eine Geschichte in der Geschichte – Zum Buch von Charlotte Bechstein
Helma Kienast, die Hauptfigur des Büchleins, weist durchaus autobiographische Züge auf. Und so ist die Mahnung, die Charlotte Bechstein aus Gotha als Titel gewählt hat, als eigene Lebensmaxime zu verstehen. Die Autorin arbeitet an ihrer individuellen Geschichte, die sich mit der Geschichte jenes gescheiterten Versuchs namens DDR verknüpft hat, der Welt des Kapitals etwas Neues und Eigenes entgegenzusetzen, und die sich nunmehr im „einig Vaterland“ fortsetzt.
Helma gehört zu den vielen „gebrannten Kindern“, die in der DDR vor den Kopf gestoßen und in eine andere als die selbstgewählte Richtung ihres Lebens gedrängt wurden, weil sie wegen Schwierigkeiten beim Begreifen komplizierter politischer Ereignisse politischer Unreife bezichtigt wurden. Sie hatte bereits mit dem Studium der marxistischen Philosophie begonnen, als 1961 in Berlin die „Mauer“ gebaut wurde und ihr – wie anderen – jene Verständnisschwierigkeiten bereitete.
Das Verfahren war besonders perfide und anmaßend lächerlich zugleich: Sie, die sich in einem Ausbildungsverhältnis befand, wurde veranlasst, ihre eigene Exmatrikulation zu beantragen – wegen „politischer Unreife“. Ein solcher Umgang mit Menschen ist beschämend für ein System, dessen Sachwalter es selbst stets als besser, ehrlicher, menschlicher, gerechter als das kapitalistische dargestellt haben. So geschlagene Wunden sitzen tief und schmerzen noch in den Narben, auch wenn man dann im Museum und in der Bibliothek eine neue Lebenstätigkeit findet. Als exmatrikulierter Philosophiestudent war man gezeichnet. Es bedurfte schon einiger Menschen, die Verständnis hatten für individuelles Leben und ein wenig Einfluss, um Hilfe zu finden. Helma hat ihren Weg gefunden und ist ihn gegangen.
Ja, und dann? Dann verliert sie nach 1989 ihren Arbeitsplatz – im einigen, freiheitlich demokratischen Vaterland. „Ich bin auf der Straße wie damals, fallengelassen wie nutzloser Ballast, ligengeblieben wie ein Häufchen Unglück, keine Empfehlung für welche, die ein Alibi brauchen oder ihr Image aufbessern wollen.“
In dieser Befindlichkeit verinnerlicht man individuell die allgemeine Erfahrung: „Man wird krank von Arbeitslosigkeit, Intrigen, Hass, Zorn, Stress, Kummer, Hoffnungslosigkeit, erst an der Seele, dann am Körper.“
Helma oder Charlotte hält sich an die Mahnung: „Du darfst nicht daran zerbrechen!“ Und sie folgt dem anderen Rat: „Schreib, schreib, bis du umfällst. Du kannst es, du musst es nur wollen. Und pfeif auf die Geldsäcke.“ Das Büchlein ist eine ehrliche Bilanz ihres bisherigen Lebens.
Sicherlich eine Zwischenbilanz, weil natürlich auch für solche Unternehmen ihre Erkenntnis gilt: „Die Wahrheit liegt im Verborgenen, und wir sind alle Suchende.“ Sie sucht, indem sie eine Reise zu Stätten ihres früheren Wirkens in das schöne Saaletal bei Kahla und Jena antritt. Es ist gleichzeitig eine Zeitreise.
Wohltuend ist, dass sie leise Töne anschlägt. Das unterscheidet sid von vielen rechthaberisch moralisierenden Schwarz-Weiß-Darstellungen, an denen unsere Zeit so reich ist. Leise Töne bieten ihr die Möglichkeit, schwerwiegende Probleme differenziert anzugehen. Und sie stellt sich selbst viele Fragen, Fragen, die sich auch der Leser stellen könnte und sollte.
Am Ende fragt man sich: Ist das nun ein Buch der Verbitterung oder bietet es Ausblicke und beherzigenswerte Erfahrung? Gewiß, vieles Bittere wird ausgesprochen, und in manchem spürt man auch, dass es durch Bitterkeit hindurch musste. Meiner Meinung nach fällt z.B. der Ausdruck „Kadermieze“ etwas aus dem Rahmen und zeugt von diesem Weg durch Bitternis.
Natürlich weiß sie, dass man heute leise Töne gern überhört. Sie wird sich nicht dadurch entmutigen lassen. Sie sagt ja zu ihrem Tun als Schriftstellerin: „Mit Menschen reden, Werte ins Gedächtnis rufen, die Menschenalter überdauert haben, die Worte der Dichter bewahren, die eigenen Träume nicht preisgeben in solcher Zeit … Sie wird nicht mehr abwägen: Was will die Masse hören? Sie wird aussprechen, was sie selbst als gut und wahr erkennt. Auch nicht die kleinliche Frage erörtern, ob es gelingen wird. Sie wird es einfach tun.“
Prof. Dr. H.-G. Eschke (Thüringische Landeszeitung, 17.01.1998)
Autobiographische Weisheit: "Du darfst nicht daran zerbrechen" - Gothaer Schriftstellerin Charlotte Bechstein mit neuem Buch
"Du darfst nicht daran zerbrechen" - so lautet der Titel der neuesten literarischen Schöpfung der Gothaer Schriftstellerin Charlotte Bechstein.
Helma Kienast, die Hauptperson ihres Werkes, ist eine gestandene und bewährte Bibliothekarin, die aber nach der sogenannten Wende arbeitslos wurde. Dieser unverschuldete Fall in schier bodenlose Leere sozialer Bedeutungslosigkeit ist traurige Gegenwart.
Helma unternimmt einen Busausflug nach Jena und Kahla zur Leuchtenburg, jeden Stätten, woe sie sich Jahrzehnte zuvor ebenfalls damals als eine wegen "politischer Unreife" exmatrikulierte Philosophie-Studentin, mit erlittenem Unrecht auseinanderzusetzen hatte. Damals begleiteten liebenswerte Menschen ihren Weg, insbesondere Karl, ein Doktor der Paläontologie. Es entspinnt sich eine feine und herbe Beziehung zwischen diesen beiden.
Bitterkeit ist der tragende Grund der in zwei Ebenen ausgelegten Geschichte von Charlotte Bechstein, schnörkellos und ohne Pathos ihre Sprache. Eingestreut in die Bruchstücke ihrer Erinnerungen an ihren geliebten Karl sind wunderbar zu lesende und zu hörende Gedichte von leuchtendem poetischem Reiz.
Kraftvoll und kräftezehrend ist die Rückschau der Helma Kienast. Einerseits Trauer um die längst vergangene, kaum aufgeblühte Liebe, die sie sich aber als Schatz über alle Zeit bewahrt hat, andererseits die Ohnmacht um das nutzlos erscheinende Dasein in der Gegenwart bestimmen ihr Leben.
"Du darfst nicht daran zerbrechen" mahnt sie Karl. Ist es nun sein Alibi mitten im Abschied der beiden oder das trotzige Aufbegehren der arbeitslosen Helma?
Auf dem Umschlag des Bechsteinschen Büchleins sind zwei Laubbäume abgebildet, ohne Blätter, knorrig, trotzig, umgeben von Herbstnebel oder winterlichem Frost - wer weiß?
Die autobiographische Geschichte endet nicht tragisch, aber eine heraufziehende Resignation ringt mit der unerschütterlich lebendigen Hoffnung auf Bewahrung der eigenen menschlichen Würde.
Friedrich Matz
(Gothaer Allgemeine, 03.02.98)