Beschreibung
Walter Fromm
Leben sammeln in der Diktatur
Versuch über ein vermeintlich unspektakuläres Autobiographiemodell
in spektakulären Zeiten an der Peripherie Europas
Nichts kann die missbrauchsbesessene Macht so sehr aushebeln, wie persönlich Erlebtes, subjektiv Erfahrenes, ja sogar Intimes und aus dem letzten Winkel der Gehirnwindungen Hervorgeholtes, das publik gemacht wird oder gemacht werden könnte. Die Macht beruht auf genereller und persönlichkeitsbezogener Geschichtsfälschung. Gefälscht wird alles, was dem Erhalt der Macht zuwiderlaufen könnte: die Geschichte des Landes, die Kulturgeschichte, die Geschichte von Regionen, die Geschichte von Städten und Weilern und letztlich die Geschichte jedes einzelnen Individuums. Die echte Identität muss – beugt man sich dem Willen der Macht – verleugnet und die falsche angenommen oder zumindest akzeptiert werden. Je stärker die Diktatur, desto totaler die Fälschungsbestrebungen, weshalb Mao seine brutale Machtentfaltung nicht einfach Revolution nannte, sondern Kulturrevolution, wohl wissend, dass der ganze Prozess mit kultureller Identität und Unkultur zu tun hatte.
Zum Gefährder wird automatisch jeder, der unverblümt aus seinem Leben erzählt. Die echte persönliche ist stärker als die gefälschte öffentliche Geschichte. Denn der Erzähler setzt ja seine persönliche erlebte Wahrheit gegen die Lügen der Macht und kratzt an ihnen oder bringt das riesige Gebäude der geballten Fakes gar ins Wanken. In der persönlichen Wahrheit des Schreibenden, des Bekennenden (seit Rousseaus Confessions), wird individuelle Geschichte wieder authentisch, wahrhaftig und lebendig. Es ist eine verifizierte Wahrheit, sie wird sozusagen im Schreibakt vom Schreibenden zertifiziert und der Leser kann davon ausgehen, dass sie der imaginierten ISO-Norm von Anstand, moralischer Integrität und unzweifelhafter Wahrhaftigkeit voll und ganz entspricht. Philipp Lejeune spricht von einem „autobiographischen Pakt“ zwischen Autor und Leser.1 Geradezu paradigmatisch für diese Art von
Bekenntnis-, Erlebnis- und Erinnerungsliteratur sind beispielsweise
Victor
Klemperers Tagebücher, „Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten (1933–
1945)“. Von ihm stammt auch der sehr überzeugende programmatische Titel
„Leben sammeln, nicht fragen wozu und warum“.
Erzählt der Einzelne über sich selbst, seine Erlebnisse und seinen Werdegang,
so ist es autobiographisches Erzählen. Autobiographisch Erzähltes ist
in Diktaturen unerwünscht. Zu sehr sind die Inhalte authentisch und aus erster
Hand. Tagebücher gar, die Rohform der Autobiographie, sind die pure Bedrohung,
denn in ihnen ist eingefroren, was der Machtapparat fürchten muss:
die ungeschminkte Wahrheit, die noch nicht einmal durch eine veredelnde literarische
Formgebung abgesoftet wird, sondern nackt und mit voller Wucht
„zutrifft“. Die Hausdurchsuchungen der Macht bei Schriftstellern galten und
gelten in Diktaturen nicht den Manuskripten, die den Medien zur Veröffentlichung
vorgelegt werden sollen oder könnten, sondern den privaten, intimen
Aufzeichnungen und Bekenntnissen, dem Briefwechsel, heute dem E-Mail-
Verkehr, die ja irgendwo gut versteckt sein müssten beim vermutet unbotmäßigen
Autor. Mir will scheinen, dass es aus diesen Gründen in Diktaturen
relativ selten Tagebücher und Autobiographien gibt, die über die Zeit bis zur
Veröffentlichung gerettet werden können. (...)