Beschreibung
Abstracts:
ROLAND DOLLINGER: “Stolpersteine”: Zafer Senocaks Romane der Neunziger Jahre
Das Prosawerk des 1961 in Ankara geborenen und seit 1970 in Deutschland lebenden Lyrikers, Romanciers, Übersetzers und Publizisten Zafer Senocak wird analysiert. Was Senocaks Texte Der Mann im Unterhemd (1995), Die Prärie (1997), Gefährliche Verwandtschaft (1998) und Der Erottomane (1999) miteinander verbindet ist ein Interesse am Experimentieren mit potentiellen Existenzformen. Da seine Arbeiten sich nicht auf binäre Polaritäten reduzieren lassen, weisen sie ein postmodernes/postkoloniales Erkenntnisinteresse auf. Detailliert werden strukturelle Verwandtschaften zwischen räumlichen Metaphern des Wohnens bzw. Reisens und Formen des sozialen “Fremdseins” untersucht. Ferner rücken Verflechtungen türkischer, jüdischer und deutscher Geschichte ins Blickfeld.
B. VENKAT MANI: The Good Woman of Istanbul: Emine Sevgi Özdamar's Die Brücke vom Goldenen Horn
The terms “authentic voice” and “native informant” are at times claimed by “minority” authors themselves and are often assigned to them by their multicultural critics. Özdamar's novel employs the idea of performance—from the Turkish Karagöz to Brecht—both in its formal and thematic aspects in order to escape a victimized narrative. The first person narrator as cultural performer is capable of internalizing and articulating elements from both cultures. The narrator resists categorization as either the native informant/authentic voice or as the vessel of Western knowledge. Women's intervention in the narratives of history is investigated at the intersection of cultures and religions, specifically of Germany and Turkey, of Christianity and Islam.
SABINE FISCHER: Durch die japanische Brille gesehen: Die fiktive Ethnologie der Yoko Tawada
“Japan gibt es nicht” — mit dieser These attackiert die in Hamburg ansässige Japanerin Yoko Tawada jene Exotismen, die die Rezeption ihrer Werke in Deutschland immer noch prägen. Die Schriftstellerin, die seit 1982 in Europa lebt und — nach eigenen Worten — aus einem europäisierten Land stammt, betrachtet die Exotik Japans als Summe von Phantasien, die in den Köpfen von EuropäerInnen existieren und von JapanerInnen allenfalls nachahmend wiederholt werden. Tawada setzt sich gegen die Zuschreibung einer typisch japanischen Sichtweise auf den europäischen Alltag durch Imitation zur Wehr. Ihre pseudo-japanische Perspektive läßt ein imaginäres Europa entstehen. Die inszenierten Begegnungen mit der Fremde offenbaren die Intentionalität der Wahrnehmung, ihre Eingebundenheit in die Sprache und ihre Beschränkung durch tradierte Bilder.
PETRA S. FIERO: Life at the Margins of East German Society: Barbara Honigmann's Epistolary Novel Alles, alles Liebe!
The focus here is on the marginalization of the Jewish characters in Barbara Honigmann's novel Alles, alles Liebe! (2000). Factors contributing to the feeling of alienation include the tense political situation in the GDR in the mid-1970s as well as the physical appearance and religious origin of the characters. The clash between first- and second-generation Jews, the ambivalence of the younger generation in feeling neither Jewish nor German, and the problematic relationship between Jews and Gentiles heighten the characters' sense of not-belonging. In the novel the stifling effect of state-prescribed Socialist art is counteracted by the staging of a Lorca play by Anna Herzfeld and her progressive artistic friends. Additionally, this article demonstrates how Honigmann's employment of the epistolary form harks back to Romanticism.
MICHAEL BRAUN: “allein zu zweit / sind sie im einen”: Liebe in der Gegenwartslyrik
Von dem Ruf, die “unaufgeklärteste Gattung der deutschen Literatur” (R. D. Brinkmann) zu sein, hat sich die Liebeslyrik erst im Gefolge der “Neuen Subjektivität” in den siebziger Jahren befreit. Unter neuen Bedingungen erfreuen sich Gedichte über die Liebe großer Beliebtheit. Die historischen Gründe für die Liebesskepsis der Nachkriegsdichtung werden skizziert und am Beispiel einzelner Gedichte (D. Grünbein, E. Fried, U. Hahn, S. Kirsch, U. Kolbe, C. Meckel u.a.) die Ausgestaltungen zentraler Themenkreise untersucht: Annäherung und erste Liebe; Trennung und Liebesverrat; Lust und Leidenschaft; Einsamkeit und Gemeinsamkeit. Als poetologische Grundzüge des zeitgenössischen Liebesgedichts kristallisieren sich ein gesteigertes “Problembewußtsein” heraus, Satire und Ironie sowie die Wiederkehr traditioneller Formen, etwa des Sonetts.
CHRISTINE KANZ: Intertextuelle Bezüge: W. H. Audens The Age of Anxiety und Ingeborg Bachmanns Malina
Nach dem 11. September 2001 ist Das Zeitalter der Angst (1947) des englischen Dichters Wystan Hugh Auden wieder zu einem vielgelesenen Text geworden. Bereits nach dem Zweiten Weltkrieg hatte er schon einmal Furore gemacht. Daß er auch Ingeborg Bachmann in den 1950er Jahren nachhaltig beeindruckt hat, legen vor allem frappante Parallelen in Bachmanns Roman Malina nahe. Ebenso wie Audens “dramatisches Gedicht” ist Malina ein Text über die Angst, und er stellt die unter den Menschen psychisch wirksamen Zerstörungsmechanismen ins Zentrum. Der Beitrag zeigt die intertextuell herstellbaren Beziehungen und deren Bedeutung und Funktion auf. Unabhängig davon, ob diese Intertextualität auf Rezeption beruht oder nicht, wird sie hier erstmals aufgewiesen.
KLAUS ZEYRINGER: “SIE Erwachen”: Marie-Thérèse Kerschbaumers Erzählgeflechte
Die Wiener Autorin Kerschbaumer, Jahrgang 1936, ist seit ihrem Prosaband Der weibliche Name des Widerstands (1980) eine über die Grenzen Österreichs hinaus bekannte Schriftstellerin. Sie verbindet eine genaue Erzählung von öffentlichen und privaten Vergangenheiten — vor allem aus der NS-Zeit und den Nachkriegsjahren — mit einem hohen Grad an sprachlich-literarischer Reflexion. Bezeichnend für Kerschbaumers ästhetisches Verfahren ist die Verknüpfung strukturalistischer Positionen und realistischer Narration. Hingewiesen wird auf Kontexte und Bezugspunkte in Kerschbaumers Werken, wobei der Konnex zwischen den Romanen Schwestern (1982) und der “Fremdheits-Trilogie” (1992-2000) betont wird. Exemplarisch analysiert wird der Inhalt als Teil der Struktur, die weibliche Kunst des Erinnerns und die Darstellung von Fremdheits-Erfahrungen.
STEPHAN BRAESE: “Tote zahlen keine Steuern“: Flucht und Vertreibung in Günter Grass’ Im Krebsgang und Hans-Ulrich Treichels Der Verlorene
Mit seiner Novelle Im Krebsgang wollte Günter Grass ein “Versäumnis der deutschen Nachkriegsliteratur” nachholen, nämlich ihr Schweigen über Flucht und Vertreibung der Ostdeutschen beenden. Auch wenn dieses Schweigen nicht so vollständig gewesen war, wie Grass zu suggerieren verstand, markiert die Novelle eine neue Qualität in der Auseinandersetzung deutscher Gegenwartsliteratur mit den Vertreibungsverbrechen. Bei Grass und durch Hans-Ulrich Treichels wenige Jahre zuvor erschienene Erzählung Der Verlorene werden die Fragen nach Schuld und Schuldwissen neu gestellt: Mehr als fünfzig Jahre nach Kriegsende wird eine “Poetologie der Vertreibung” zu erarbeiten versucht, die auch das Thema der transgenerationellen Übertragung reflektiert.
CLAUDIA BREGER: Pop-Identitäten 2001: Thomas Meineckes Hellblau und Christian Krachts 1979
Trotz ihrer programmatischen Affinität zu Bewegungen der Dekonstruktion zeugt die neuere deutsche Popliteratur davon, daß Identitätsfragen zu Beginn des 21. Jahrhunderts ungeminderte Aktualität besitzen. Untersucht wird die Inszenierung von Ethnizität und Geschlecht an entgegengesetzten Enden des gegenwärtigen Pop-Spektrums: Kritisch archiviert Thomas Meineckes Roman Hellblau (2001) die modernen Dispositive von race und gender. Die Literatengruppe um Christian Kracht wendet sich mit ihrem Manifest Tristesse Royale dem entgegengesetzten Projekt einer Re-Autorisierung “königlicher” Männlichkeiten zu. Zu diesem Zweck “sampeln” die Autoren moderne Topoi der Sexualität und des Orientalismus, ohne aber — wie Krachts neuer Roman 1979 zeigt — den anvisierten Posen ausgezeichneter Identität noch positive Konturen verleihen zu können.
PETER C. PFEIFFER: Korrespondenz und Wahlverwandtschaft: W. G. Sebalds Die Ringe des Saturn
Der Aufsatz bestimmt die Eigentümlichkeit Sebaldscher Prosa als ethische Dimension des Schreibens, die die Körperlichkeit menschlicher Erfahrung erhalten will. Sebaldsche Schreibtechniken werden daraufhin untersucht, besonders das Stilmerkmal der grammatischen und semantischen Reihung in seiner Funktion bei der Entschleunigung des Leseerlebnisses und in der Rekonstruktion erfahrbarer Vielfalt sowie chronikaler Tiefe. Die damit festgemachte Umsetzung erzählerischer Sinnlichkeit wird anschliessend erhellt an den Konzepten der “Korrespondenz” und “Wahlverwandtschaft” in der Form von intertextuellen Bezügen. Ein Hofmannsthal-Zitat wird dechiffriert und bietet ein exemplarisches Beispiel für textuelle Praktiken Sebalds. Abschliessend legt der Aufsatz die poetologische Allegorie des Seidenfadens aus und weist auf die Verwendung von Elementen christlicher Eschatologie bei Sebald hin.
ULRICH BAER: “Learning to Speak Like a Victim”: Media and Authenticity in Marcel Beyer’s Flughunde
Marcel Beyer’s critically acclaimed and commercially successful 1995 novel Flughunde reconstructs the last hours in Hitler’s bunker through invented recordings from a sound archive established by a Nazi technician. The book offers a critique of the psychological and ethical notion of authenticity as legitimating representations of the past. By highlighting the totalitarian state’s dependence on new technologies and the way these technologies continue to shape human experience and the collective vision of history, Beyer offers a new understanding of the persistence of the Nazi past in contemporary German culture. The essay explicates some of Beyer’s literary techniques and argues that Flughunde reaches beyond the theoretical positions attained by contemporary German media theory.
FRIEDERIKE EIGLER: (Familien-)Geschichte als subversive Genealogie: Kathrin Schmidts Gunnar-Lennefsen-Expedition
Kathrin Schmidt imaginiert eine unkonventionelle deutsche Familiengeschichte im 20. Jahrhundert. Zwei Aspekte heben Schmidts Roman aus der Fülle von Erinnerungstexten der neunziger Jahre heraus: Zum einen visualisiert und thematisiert Schmidt auf oft phantastische Weise Gedächtnis- und Erinnerungsprozesse. Zum anderen schreibt sie mit Hilfe einer magisch inspirierten weiblichen Genealogie dominante Vorstellungen von Geschlechterollen und Rasse und damit von deutscher Geschichte und Nationalität um. Schmidts Expedition in die deutschen Vergangenheiten (insbesondere der DDR und des Nationalsozialismus) fordert alle heraus, die allein auf öffentliche Erinnerungsformeln und Gedenkrituale setzen, oder aber den Rückzug auf ein privates Gedächtnis propagieren.
NANCY NOBILE: “So morgen wie heut”: Time and Context in Jenny Erpenbeck’s Geschichte vom alten Kind
The article has two interrelated focal points. It first examines Jenny Erpenbeck’s Geschichte vom alten Kind as a GDR allegory that plays upon East/West relations at and since the Wende. This allegorical dimension is shown to be consistently prominent throughout Erpenbeck’s novella, at times approaching the brink of caricature. Second, the novella’s intertextual allusions to Ludwig Tieck’s Der blonde Eckbert are traced. In contrast to the GDR references, allusions to Tieck do not become conspicuous until the Wendepunkt of Erpenbeck’s novella, where they occur in a cluster. These allusions prompt readers to enact a Wende of their own: to perform a retrospective reading of Erpenbeck’s text—as well as of Tieck’s novella—in order to integrate newly emergent elements. The intertextual aspects of Geschichte vom alten Kind thus foster a scrutiny of the past that resituates the present and enables forward movement.
ALEXANDER MATHÄS: Martin Walser und der Sinn des Lesens: Zur Ästhetik von Tod eines Kritikers
Tod eines Kritikers wurde nach seinem Erscheinen nahezu ausschließlich unter dem Aspekt des Antisemitismusverdachts rezensiert. Analysiert man den Roman jedoch vor dem Hintergrund von Walsers Lesephilosophie, eröffnen sich neue Perspektiven, die den Text als vielschichtige und schonungslose Auseinandersetzung mit dem “eigenen Selbst” erkennen lassen. Die Leser sollen sich bei diesem Dialog mit dem Text nicht nur als unschuldige Opfer, sondern auch als “Täter” kennenlernen und so einen Zugewinn an Selbstbewusstsein erfahren. Walsers Essays zur Rezeption seiner literarischen Vorbilder offenbaren eine Kontinuität dieser Ästhetik der Selbsterforschung, die von seinen frühesten schriftstellerischen Impulsen bis hin zu seinen umstrittenen Veröffentlichungen, wie beispielsweise der Friedenspreisrede und Tod eines Kritikers, führt.