Beschreibung
»In keinem Lande der Welt hat man soviel von den natürlichen Aufgaben der Frau gesprochen und mit solcher Energie und Zähigkeit versucht, die Frau ausschließlich auf diese ihre natürliche Sphäre zu verweisen, hat man soviel von der Heiligkeit der Mutterschaft gesprochen wie in Deutschland. Aber keine theoretische Verherrlichung hat verhindert, daß die Mutter im praktischen Leben mißachtet, erniedrigt, dem Elend preisgegeben worden ist.« Mit diesen drastischen Worten wandte sich Alice Salomon 1908 an das Publikum der Jahresversammlung des Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit. Auf dem wegweisenden Vortrag zum Thema »Mutterschutz und Mutterschaftsversicherung« basiert der gleichnamige Band, der noch im selben Jahr bei Duncker & Humblot in Leipzig erschien. Mit ihrer Rede und den daraus entstandenen Schriften trug Alice Salomon entscheidend dazu bei, das Thema Mutterschutz ins Bewusstsein der wilhelminischen Gesellschaft zu rücken.
Autorenportrait
»Sozialreformerin, Frauenrechtlerin, * 19.4.1872 Berlin, 30.8.1948 New York. (jüdisch, seit 1914 evangelisch) S. wuchs in einem wohlhabenden, assimilierten jüd. Elternhaus in Berlin auf und besuchte hier 1878-87 eine christliche höhere Töchterschule. 1902 begann sie an der Univ. Berlin als Gasthörerin ein Studium der Nationalökonomie, das sie 1906 mit der Promotion zum Dr. phil. bei Max Sering (1857-1939) abschloß. Seit 1893 arbeitete sie in den neugegründeten Berliner Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit mit, die jungen Frauen Gelegenheit zu systematischer, fachlich qualifizierter Sozialarbeit boten. Dort fand sie engen Kontakt zu Jeanette Schwerin (1852-99). Mitbegründerin und seit 1897 Vorsitzende der Gruppen sowie seit 1896 Mitglied im Vorstand des Bundes dt. Frauenvereine (BDF). Schwerin vermittelte ihr die feministischen und sozialpolitischen Konzepte, die die eigentümliche Verbindung von sozialer Arbeit und weiblicher Emanzipation in S.s Arbeit kennzeichnen. Nach Schwerins Tod wurde S. Vorsitzende der Gruppen. Besondere Aufmerksamkeit schenkte sie der fachlichen Ausbildung, die von Anfang an die Arbeit der Gruppen von traditioneller Wohltätigkeit unterschieden. 1899 richtete S. einen Jahreskurs ein, der den Beginn systematischer Ausbildung zu sozialer Arbeit in Deutschland markiert. 1908 wurde der Jahreskurs im Zusammenhang mit der preuß. Mädchenschulreform zur ersten nichtkonfessionellen sozialen Frauenschule mit einem zweijährigen Curriculum ausgebaut; S. war die erste Direktorin (bis 1925). Auch in der bürgerlichen Frauenbewegung trat sie in die Fußstapfen Schwerins: 1900 als deren Nachfolgerin Vorstandsmitglied, 1910-20 stellv. Vorsitzende des BDF. 1909-33 war sie Schriftführerin des internationalen Frauenbundes, 1920-33 dessen Vizepräsidentin. 1917 schlossen sich die inzwischen zahlreichen Sozialen Frauenschulen auf Initiative S.s zur Konferenz der Sozialen Frauenschulen Deutschlands zusammen, S. wurde Vorsitzende. In Zusammenarbeit mit Helene Weber (1881-1962), zuständige Referentin im neu eingerichteten Preuß. Ministerium für Volkswohlfahrt, arbeitete die Konferenz 1920 eine staatliche Prüfungsordnung für die Sozialen Frauenschulen aus, die auf Jahrzehnte bestimmend für die soziale Ausbildung in Deutschland wurde. 1925 war S. die maßgebliche Initiatorin der Dt. Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit, eines bislang einmaligen Versuchs, ein Konzept spezifisch weiblicher Wissenschaft und Forschung im sozialen Bereich zu entwickeln. 1932 reich geehrt, verlor sie 1933 sämtliche Ämter, wurde 1937 ausgewiesen und 1939 unter Aberkennung des Dr.-Titels durch die Univ. Berlin formell ausgebürgert. Über England emigrierte sie in die USA; sie starb vereinsamt in New York. Die herausragende sozialpolitische wie feministische Leistung S.s war die Verbindung der Theorie der geistigen Mütterlichkeit der bürgerlichen Frauenbewegung in Deutschland mit dem dt. Konzept des Kathedersozialismus und der Idee des sozialen Friedens in der Tradition der engl. Sozialphilosophie Thomas Carlyles und John Ruskins. S. entwarf soziale Arbeit nicht als Beruf im modernen Sinne, sondern als sozialreformerisches Konzept weiblicher Emanzipation, das allerdings mit den gesellschaftlichen Realitäten der Weimarer Republik zunehmend in Widerspruch geriet und die Entwicklung sozialer Arbeit zum weiblichen Dienstleistungsberuf unter männlicher Leitung nicht verhindern konnte.« Sachße, Christoph, in: Neue Deutsche Biographie 22 (2005), S. 389-391